Teil 1
Ich betrachte mich im Spiegel. Mein hellblaues Ballkleid scheint unter dem schummrigen Licht der Schultoiletten zu leuchten, und obwohl mir andere gesagt haben, wie gut mir dieser neue Look passt, kann ich ihnen einfach nicht zustimmen. Im Spiegel betrachte ich das Mädchen, das mir mit großen Augen entgegenblickt, wie sie so dasteht, mit ihrem Weinglas in der Hand und der Ballfrisur, so entschlossen und zukunftssicher. Doch dieses Mädchen bin nicht ich. Ihre Miene ist nur eine Fassade nach außen, denn tief in mir drinnen kann ich dieses enorme Gefühlschaos spüren, das sich da abspielt. Ich drehe mich weg, während ich den letzten Schluck aus meinem Weinglas trinke. Die Flüssigkeit ist noch angenehm kühl und prickelt leicht in meinem Mund. Nach einem kurzen Durchatmen öffne ich die Tür und lasse die Toilette hinter mir.
Ganze acht Jahre lang bin ich jeden Tag durch diese Gänge gegangen, die nun so spät in der Nacht ganz still sind. Und trotzdem kann ich nicht realisieren, dass diese Zeit der Kindheit nun vorbei sein soll. Es ist doch noch nicht so lange her, dass ich dieses Gebäude das erste Mal betreten habe und verängstigt war, wie groß das hier alles ist. Aber jetzt habe ich meine Matura bestanden. Allmählich breitet sich ein leichtes Lächeln in meinem Gesicht aus. Ich habe tatsächlich meine Matura bestanden! Während ich die Treppen ein Stockwerk weiter nach unten laufe, höre ich nichts anderes als das Klackern meiner eigenen Schuhe, und als ich kurze Zeit später vor der Tür zum Festsaal stehe, hämmert mir dumpf die Partymusik entgegen. Ich schaue für einen kurzen Moment an mir herunter, dann mache ich die Tür einfach auf und spüre die Bässe der lauten Musik jetzt ganz deutlich. Lia winkt mir von der anderen Seite strahlend zu, und als ich mich zu ihr und den anderen dazustelle, dreht der DJ unseren neuen Lieblingssong auf. „Komm, das muss gefeiert werden!“. Lia nimmt mich an der Hand und zieht mich auf die Tanzfläche, und dann tanze ich so ausgelassen wie schon lange nicht mehr. Und auf einmal bin ich wieder glücklich. Einfach so. Ich lasse mich von der Musik leiten, drehe mich im Kreis und spüre das Glück durch mich hindurchströmen. Ich nehme meine beste Freundin an der Hand, dann singen wir mit, tanzen und wirbeln durch den ganzen Raum, sodass uns die anderen schon argwöhnisch zuschauen. Doch uns ist das egal und wir machen lachend weiter. Nach einer Weile setze ich mich schließlich für eine kurze Verschnaufpause auf einen leeren Sessel und beobachte lächelnd meine Freunde, wie sie lachen, tanzen und einfach Spaß haben. Und genau in diesem Moment wird mir etwas bewusst. Ich werde das alles hier nur ein einziges Mal erleben, und dann nie wieder. Und wer weiß, vielleicht hatte mein Vater ja doch recht, und es wäre das beste, einfach im Moment zu leben und die Zukunft auf sich zukommen zu lassen. Ich muss grinsen. Wenn meine Mutter mich so sehen würde, würde sie schlicht in Panik geraten, denn wenn es nach ihr ginge, würde ich morgen schon im Flugzeug nach England sitzen, um auf der University of Oxford zu studieren. Dabei ist das ihr Traum, nicht meiner, und ich verstehe einfach nicht, warum sie das nicht akzeptieren will. Ich trinke einen Schluck von meinem Wasser und schüttle den Kopf.
„Na, alles in Ordnung bei dir?“, Lia lässt sich auf den Sessel neben mir fallen.
Ich nicke. „Ja, ich hab nur Angst, dass ich es nicht schaffe meine Mutter vom Gegenteil zu überzeugen.“
„Ach komm, Mic. Zerbrich dir doch nicht genau jetzt darüber den Kopf.“, sie seufzt. „Schau dich doch mal um, wir sind heute zum letzten Mal hier. Also komm, genießen wir diesen letzten einen Abend, dann helfe ich dir, und zwar so lange, bis wir deine Mutter umgestimmt haben, einverstanden?“, sie hält mir ihre Hand hin.
„Einverstanden.“, ich lächle ihr dankbar zu und dann genießen wir den restlichen Abend. Und zwar in vollen Zügen.
„Ich kann nicht mehr!“, müde fahre ich mir mit meiner Hand durch die Haare. Seit der Maturafeier sind ein paar Tage vergangen, doch die Freude, die ich an diesem Tag verspürt habe, ist wie verflogen. Die letzten Stunden waren für mich der reinste Albtraum. Meine Mutter versucht nach wie vor, mich von Oxford zu überzeugen, und obwohl ich noch nicht so genau weiß, wie es für mich weitergehen soll, ist das Jusstudium in Oxford definitiv keine Option für mich.
„Du hast sie also nicht überzeugen können?“, Lia sitzt mir gegenüber und schaut mich unglücklich an. Wir haben uns in unserem Lieblingscafé getroffen und ich habe ihr aus lauter Verzweiflung mein Herz ausgeschüttet.
Ich schüttele den Kopf. „Was glaubst du denn? Immer wenn ich ihr ein gutes Argument bringe, wirft sie mir sofort ein Gegenteil davon entgegen, ich hab‘ am Ende einfach nicht mehr gewusst, was ich sagen soll.“, ich starre aus dem Fenster, nur um eine Straßenbahn zu sehen, auf der eine Werbung für die Oxford University aufgeklebt ist. Ich drehe mich instinktiv weg.
Lia seufzt. „Und…was ist, wenn du zum Beispiel ein Jahr Pause machst? Im Ausland, oder ein Sozialjahr, was hältst du davon? Da verdienst du auch dein eigenes Geld und sammelst vielleicht Erfahrung, was dich so interessiert.“
Ich nicke nachdenklich. „Das hab ich mir auch schon überlegt, aber ich trau‘ mich einfach nicht, ihr so etwas vorzuschlagen. Dabei will ich noch eine Reise machen, die Welt ein bisschen sehen und einfach noch nicht sofort anfangen, verstehst du das irgendwie?“
Lia nickt träumerisch. „Oh ja, und wie. Einmal quer durch Europa, oder noch besser: Ein Trip durch Kanada. Aber davon können wir nur träumen, bei den jetzigen Preisen.“
Ich seufze und nehme einen großen Schluck von meinem Kaffee. All das wäre so viel einfacher, wenn mein Vater noch bei uns wohnen würde. Mit seiner Hilfe hätte ich es auf jeden Fall geschafft, meine Mutter zu überzeugen, ein Jahr Pause zu machen, aber dadurch, dass er jetzt in Québec lebt und dort als Fotograf aktiv ist… Apropos Québec… Ich stutze, und so allmählich beginnt sich eine Idee in meinem Kopf zu formen. Ich grinse Lia an. „Ich hab da so eine Idee, wie wir deine „Kanada-Idee“ umsetzen könnten.“
„Wie…echt jetzt?“, sie macht große Augen.
Ich nicke. „Zumindest während der Sommerferien, ich muss nur noch mit meiner Mutter reden.“, ich suche in meiner Tasche nach einem Zehn-Euroschein und lege ihn vor Lia auf den Tisch. Dann stehe ich auf. „Ich ruf dich an, wenn ich das geregelt hab, ja?“
„Ja, aber…“, Lia runzelt die Stirn.
Ich lache. „Lass dich überraschen. Bis dann.“, ich umarme sie flüchtig, dann öffne ich die Tür und trete in die warme Sommerluft hinaus. Während ich mich auf den Weg mache, fährt mir der Wind durch Haare und ich muss unwillkürlich lächeln. Diesmal werde ich es schaffen, meine Mutter umzustimmen. Davon bin ich fest überzeugt.