Domingo

gezeichnet von Catherine Fritz

Der Sekundenzeiger passiert gerade die Zwölf. Eine Minute ist wieder um. Und er tickt weiter. Wobei, „ticken“ ist vielleicht das falsche Wort. Er rotiert gleichmäßig, immer weiter, weiter, und weiter. Der hässliche blaue Sekundenzeiger. Domingo schaut die Uhr ganz hypnotisiert an, sie hat irgendetwas Beruhigendes. Immerhin ruckelt der Sekundenzeiger nicht. Da wird dem Zeiger wenigstens nicht schlecht. Eigentlich ist er ja voll arm; hat den ganzen Tag nichts Besseres zu tun, als sich im Kreis zu drehen. Manche haben halt Pech im Leben. Was kann der Sekundenzeiger dafür, dass er als solcher erschaffen wurde? Schon wieder ist eine halbe Minute vergangen. Einfach so. Weg. Für immer.
„Wo bleibt sie denn nur? Schon fast 15 Minuten zu spät! Sonst ist sie immer pünktlich“, denkt Domingo. Und schon ist die nächste Minute vergangen. Es ist jetzt exakt viertel vier – in der Früh, versteht sich von selbst. Am Nachmittag findet ja immer noch irgendein Unterricht statt. Und die Gefahr, auf SchülerInnen oder LehrerInnen zu treffen ist viel, viel, viel zu hoch. Und Domingo hat echt keine Lust auf irgendein menschliches Wesen zu treffen.

Der Dino Domingo ist das Klassenmaskottchen der 8c und er ist auch in ihrem Klassenraum – Raum 213 – zu Hause. Jaaaaaaa, die liebe 8c – was würde er denn ohne sie machen? Ohne ihr wäre er gar nicht hier. In welcher Klasse würde sonst ein »Stofftier« akzeptiert werden? Sicher wir es noch eine geben… Jedenfalls weiß die 8c, dass er mehr als ein Stofftier ist, sie sagen es nur nicht. Zu Domingos Vorteil. Aber auch die Menschen, die glauben, Domingo sei nur so ein banales 100%-Polyester-Tierdingsbums aus China, mögen ihn trotzdem. Er mag sie auch, vor allem wenn sie ihn kraulen. Apropos: Vielen Dank für die Massage, Frau Professor! Und die Umarmung!
»Sie«, auf die der Dino warte, ist aber seine beste Freundin Domenica. Eine Maus. Sie sind sich das erste Mal Anfang des Sommers begegnet. Wie? Das ist eine andere Geschichte. Jetzt muss er aber wirklich los und sie suchen, vielleicht ist sie ja noch im Tiefschlaf.

Er sperrte die Klassentür auf, er hat ja einmal mit Domenica den gesamten Schlüsselbund des Hauses kopiert. Inklusive des elektronischen Chips. Das war ein Abenteuer, den zu bekommen. Dafür hat er jetzt einen Zugang zu allen Räumlichkeiten des Hauses. Domingo schaut noch kurz auf die Uhr und verlässt die Klasse.
Moment! Hat sich da gerade etwas am Gang bewegt? Sofort verwandelt er sich wieder in ein Stofftier. Einmal hätte ihn fast eine Schülerin gesehen, wie er sich bewegt. Die wird sich sicher gewundert haben, warum da ein 60 Zentimeter großer Dino einfach so auf dem Gang herumsitzt. Aber wer kann das heute gewesen sein? Es bleibt Domingo nichts anderes übrig, als zu warten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.